1993, Heiligabend. Das große, rechteckige Paket unterm Weihnachtsbaum springt mir sofort ins Auge. Es ist ungefähr so hoch und so breit wie zwei nebeneinanderstehende Punica-Kisten (das war der erste Vergleich, der mir damals als Kind einfiel, weil wir immer Kisten mit Punica-Flaschen zu Hause hatten – in den 90ern trank man täglich literweise zuckerhaltige Limo und dachte, das sei gesund, aber das ist ein anderes Thema). Den tatsächlichen Inhalt des Punica-Kisten-ähnlichen Paketes, den ich schließlich unter Freudentränen auspackte, hatte ich schon seit Wochen in TV-Spots bestaunt und hergesehnt: Das große, pink-rosa Barbie-Traumschiff besaß nicht nur eine ausklappbare Sonnenterrasse und einen kleinen Pool auf dem Vorderdeck! Es hatte auch einen richtig funktionierenden Mini-Mixer, mit dem man sich als Kind von Welt eigene Sommerdrinks mixen konnte. Dieses Monstrum in Plastik-Pink war mein größter und sehnlichster Weihnachtswunsch gewesen, denn auch wenn ich schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte: Ich glaubte an Barbie. Mit den genauso langbeinigen wie langhaarigen Puppen spielte ich jeden Tag, ich kämmte und frisierte sie, ich zog sie immer wieder an und aus und richtete ihre Häuser ein (das „Dream-Haus“ aus demselben Kunststoff-Konstrukt wie das Traumschiff, und dazu selbstgebaute Nachbarschaften aus Pappkartons). Natürlich ließ ich auch die wenigen Kens in meiner Sammlung immer und immer wieder um ihre filigranen Plastikhände anhalten. Ich beschäftigte mich bis ins frühe Teenager-Alter hinein mit der rosa Glitzerwelt von Barbie, Skipper und ihren Freundinnen, erfand Geschichten und Karrieren, Dramen und Romanzen, inszenierte ganze Filme und Bücher neu mit meiner pink-rosa Spielwelt. Und nun – endlich! – konnten sich meine Barbies auch auf Weltreise Richtung Australien begeben! Oder auf Kreuzfahrt nach Paris: Die Fantasie kennt praktischerweise keine geografischen Grenzen. Es war perfekt, und ich war das glücklichste Mädchen der Welt.
2023, wieder Heiligabend. Mein Mann, meine Eltern, meine Schwiegermutter und ich beobachten gerade unsere (Enkel-)Kinder dabei, wie sie mit weit geöffneten Augen auf den Weihnachtsbaum zuschreiten. „DAS packe ich als erstes aus!“, strahlt unsere siebenjährige Tochter und zeigt auf ein blau eingepacktes Geschenk. Es ist rechteckig, aber nicht annähernd so groß wie zwei Punica-Kisten. Es hat ziemlich genau die Größe eines Kartons, in dem sich eine einzelne Barbie-Puppe befinden könnte. Von Kopf bis Fuß anschaulich in Szene gesetzt, sogar die Haare mit kleinen Plastikdrähten perfekt fixiert. Doch in dem Päckchen ist keine Barbie. In keinem der Päckchen unter dem Weihnachtsbaum verbirgt sich irgendetwas aus meiner einstigen Lieblings-Spielwelt. Meine Tochter packt dieses Jahr unter anderem folgende Dinge aus:
- ein „Stein“-Kunststoff-Katapult auf Rädern mit stapelbaren Monsterfiguren (die wirklich furchteinflößend aussehen)
- ein Lego-Raumschiff mit kleinen „Alptraum-Figuren“
- Minecraft-Karten für ihr Sammelalbum
- und das beste Geschenk von allen, das sich in dem allerersten, Barbie-Karton-förmigen Paket verbirgt: ein neongrünes Stofftier mit Glubschaugen, das (kein Scherz) einen Schleim-Ball darstellt.
Der unförmige Schleimball ist eine Figur aus einer neuen Lego-Serie (zu der auch das Raumschiff und die Alptraum-Figuren gehören), und sie hatte ihn sich so sehr als Stofftier gewünscht, dass meine Mutter, pardon, natürlich der Weihnachtsmann höchstpersönlich, es selbst häkeln musste. „Genau das wollte ich!“, ruft sie jetzt, und drückt den grünen Stoffball an sich mit derselben Glückseligkeit in den Augen, mit der ich vor 30 Jahren den Mixer aus meinem Barbie-Traumschiff in die Küche trug, um den ersten Sommerdrink meines Lebens zu mixen.
Meine Tochter interessiert sich nicht für Barbies. Das Konzept, in eine Spielwelt einzutauchen, in der man mit erwachsenen Frauen berufliche Karrieren, modische Entscheidungen und heterosexuelle Romanzen zu dem immerselben Kerl nachspielen soll, hat sich ihr nie erschlossen. Wo sind da die Monster? Die Waffen? Die Katapulte und Schleimbälle? All die coolen Dinge, die sie durch ihren großen Bruder kennen und lieben gelernt hatte, fehlen ihr im rosa Barbieland. Und auch in all den anderen Welten, die sich klassischerweise an die „Zielgruppe Mädchen“ richten. Prinzessinnen findet sie langweilig – abgesehen vielleicht von Prinzessin Leia aus der Star-Wars-Welt. Einhörner sind aus ihrer Sicht nicht annähernd so interessant wie Wölfe, Tiger und feuerspeiende Flugdrachen. Meine Tochter mag Minecraft und Monster, Zombies und Vampire, interessiert sich für Kampfsport und Ninja, und statt – wie die meisten anderen Mädchen aus ihrer Klasse – zum Handballtraining zu gehen, macht sie Krafttraining für Kinder. Beim Fasching in der Kita war sie immer der einzig weibliche Vampir zwischen vielen süßen Elsas und Annas. Und vor der Einschulung fiel ihr die Entscheidung schwer, ob sie lieber eine schwarze Kobra oder viele kleine Dinosaurier auf ihrem Schulranzen wollte (es wurden die Dinosaurier).
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Ich gebe zu, dass ich gebraucht habe, bis die Erkenntnis sackte: Nur weil ich als Mädchen (und noch heute als Frau) die pinke Barbie-Welt – und alle anderen pinken Welten, von Hello Kitty bis My Little Pony – gefeiert habe, muss meine Tochter es nicht tun. Und nur weil viele Mädchen sich für Rosa und Glitzer begeistern, tun das längst nicht alle. Wieso sollten sie auch? Meine Tochter besitzt keinen einzigen Rock und kein einziges Kleid (zu unpraktisch zum Klettern) in ihrem Kleiderschrank. Ihre komplette Garderobe ist ausschließlich schwarz, blau und grün. Die langen Haare muss ich ihr jeden Morgen zu einem festen Pferdeschwanz aus dem Gesicht binden, „weil sie nerven.“ An Tagen, an denen ihr blonder Zopf nicht unter der Mütze hervorlugt, wird sie allein aufgrund ihrer Outfits noch heute regelmäßig für einen Jungen gehalten.
Das Faszinierende dabei ist: Die einzigen, die sich an diesem vermeintlichen Misfit stören, sind die Erwachsenen. Andere Kinder hinterfragen das burschikose Outfit und die teils gruselig dreinblickenden Spielsachen meiner Monster-interessierten und Ninja-Kick-übenden Tochter genauso wenig, wie sie die Tüllröcke, Glitzerkleider und Barbiepuppen der Mädchen, die sich eben in diesen Klamotten wohlfühlen und lieber Prinzessinnen-Ball als Zombie-Apokalypse spielen. Und wenn sich ein Kind doch einmal vertut und unsere Tochter versehentlich als „er“ anspricht, reicht eine kurze Klarstellung – „Ich bin ein Mädchen!“ – und alles ist geregelt.
Wir Großen tun uns da schwerer. Von „Ein Mädchen? Das sieht man aber gar nicht!“ über „Will sie nicht lieber mit Puppen spielen?“ bis hin zu „Und warum ziehen Sie sie dann SO an?“ habe ich mir schon alle möglichen Reaktionen auf den Hinweis zum Geschlecht meines Kindes anhören müssen. Und ich habe sie alle geduldig beantwortet – denn es ging mir selbst früher ja nicht anders! Ich brauchte eine eigene kleine Monster-Ninja-Kickbox-Tochter, um zu realisieren, dass nicht alle Mädchen dieser Welt Rosa-liebende und Barbie-spielende Möchtegern-Prinzessinnen sind. Und ich freue mich von Herzen über jeden und jede Erwachsene, die diese Erkenntnis schneller ereilt als mich. Denn ich kann mit absoluter mütterlicher Gewissheit bestätigen: Spielfreude und Kinderglück hängen nicht von Farben, Outfits und bestimmten Spielsachen ab. Meine Tochter taucht in ihre Monsterwelten genauso lang und detailverliebt ab wie ich es früher mit dem Barbie-Traumschiff getan habe. Stehe ich in meinem langen, rosa-gelben Kleid vor ihr, strahlt sie mich mit breitem Lächeln an und sagt: „Du bist so schön, Mami!“ – weil sie helle Farben und schöne Kleider mag, nur eben nicht an sich selbst. Und wenn sie mit ihren sieben Jahren akzeptieren kann, dass andere Menschen sich in anderer Kleidung wohlfühlen und sich für andere Dinge interessieren als sie, sollte uns als Erwachsenen das nicht genauso gelingen?
Seit kurzem steht in der Schrankwand in unserem Wohnzimmer eine neue Barbiepuppe. Es ist die Barbie aus dem Film, der 2023 in den Kinos lief. Ich habe sie zu meinem 40. Geburtstag geschenkt bekommen und mich dazu entschieden, sie im Sinne der Sammelleidenschaft in ihrem Originalkarton zu belassen. „Warum packst du die Barbie nicht aus und spielst mit ihr?“, will meine Tochter wissen. Und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob nicht in Wahrheit SIE diejenige ist, die gern mit dieser Puppe spielen würde. „Sollen wir sie auspacken?“, frage ich daher zurück, „wollen wir mit ihr spielen?“. Meine Tochter schaut kurz irritiert. Erst zu mir, dann zur Barbie in ihrem pinken Karton. Und schließlich auf das Raumschiff in ihrer Hand, auf dem eine kleine grüne Schleimfigur aus Legosteinen sitzt. „Neee danke“, ruft sie schließlich, schon im Wegdrehen, und rennt Düsenantrieb-Geräusche von sich gebend die Treppe hoch in ihr Kinderzimmer. Ich bin sicher: Dort wartet schon der nächste Drachen-Angriff auf das Lego-Raumschiff. Oder eine wichtige Monster-Mission. Und ich finde alles daran wunderbar.