Wir wollen unsere Kinder häufig vor großen, schwierigen Emotionen beschützen. Aber wenn wir diese wegschieben, vermitteln wir die Botschaft: Mit diesen Gefühlen stimmt etwas nicht, pack sie deshalb schnell weg. Ja, viele Gefühle sind unangenehm. Doch sie senden wertvolle Signale und gehören zum Leben dazu – auch zum Leben kleinster Menschen. Eine Landkarte für die Reise in die Gefühlswelt.
Als Eltern stehen wir vor diesem unmöglichen Spagat: Einerseits wollen wir für unsere Kinder nur das Beste. Wir wollen sie so glücklich und unbeschwert, dass sie für immer durchs Leben tanzen. Gleichzeitig wissen wir, dass das Leben zahlreiche unangenehme, gar herzzerbrechende Erfahrungen für sie bereithält – Momente der Enttäuschung, der Trauer und Wut, manchmal Scham oder Einsamkeit. Spielzeug geht unauffindbar verloren, Eiscreme ist unerreichbar und manchmal kündigen auch Zweijährige Freundschaften auf, oder zumindest die aktuelle Spiel-Session. Sie werden einmal zum Zahnarzt gehen müssen, durch große Prüfungen fallen und erste Lieben werden enden.
Wie also bereiten wir unsere Kinder auf diese Wetterlagen vor, auf die Sonnenstunden wie auf die stürmischen Gewitter? Denn im Grunde sind Gefühle genau das: Wetter. Sie sind temporär, ziehen auf und wechseln sich ab. Nicht immer können wir kontrollieren, wie wir uns fühlen. Aber sehr wohl können wir uns und auch kleine Menschen dabei begleiten, die Gefühle zuzulassen und sie so zu deuten, dass wir nicht in ihnen versinken.
1. Akzeptanz: Alle Gefühle dürfen hier sein
Alle Emotionen, die ein Kind fühlt, sind in Ordnung. Und das sollte es auch spüren: Meine Gefühle werden gesehen und gehört. Das größte Geschenk, welches wir einem Kind machen können, ist es zu sehen, wie es ist. Das kann für uns Eltern manchmal sehr herausfordernd und auch sehr unangenehm sein. Denn dabei werden unsere eigenen Hürden mit so intensiven Gefühlen wie Wut getriggert. Aber unsere Akzeptanz gibt dem Kind das Gefühl: Ich bin richtig und ich darf traurig, wütend, ängstlich sein. Ich muss nicht sofort aufhören zu weinen. Meine Enttäuschung darf Raum einnehmen.
Sätze wie „Hab keine Angst” oder „Du brauchst keine Angst zu haben” sind dagegen wenig förderlich. Zwar sollte die Botschaft nicht heißen: Weil Du Angst hast, solltest Du diese herausfordernde Sache nicht machen. Wir sollten aber versuchen, unserem Kind auf anderem Weg Mut zuzusprechen. Wie können wir unser Kind dazu ermutigen, diese Sache – von der wir glauben, dass sie gut wäre – trotzdem zu unternehmen? Manchmal hilft es, von den eigenen Erfahrungen als Kind zu sprechen. Wir können sagen: „Ja, ich merke, dass Du Angst hast, ich kann das verstehen. Weißt Du, es gab einen ähnlichen Moment, als ich so alt war wie Du, als ich unglaubliche Angst vor dieser einen Sache hatte. Und weißt Du, was mir damals geholfen hat…” So bauen Eltern Brücken zu ihren Kindern.
Ein guter Weg ist auch, dem Kind etwas Raum zu geben und die eigenen Grenzen ausloten zu lassen. Ich war einmal mit meiner Tochter klettern, als sie plötzlich große Angst bekam und nicht weiter wollte. Hätte ich sie in dem Moment gepusht, hätte ich ihre Angst überschrieben und meinen Willen durchgesetzt. Stattdessen habe ich ihr den Raum geöffnet, eine Pause zu nehmen, durchzuatmen, ihre Angst zu spüren und selbst eine Entscheidung darüber zu treffen, was in dem Moment okay ist. Kinder haben von sich aus eine Entdeckungslust und ein Bestreben, ihre Umgebung zu erkunden. Wenn meine Tochter eigenständig die Entscheidung trifft, dass es beim Klettern weitergehen kann, spürt sie ihre eigene Selbstwirksamkeit und eine Sicherheit, weil sie weiß, dass ihre Grenzen zählen.
Als Eltern sind wir vielleicht verleitet, die unangenehmen Gefühle unserer Kinder wegzurationalisieren: „Du brauchst keine Angst zu haben, Deine Wut bringt Dich nicht weiter, sei nicht traurig.” Doch damit senden wir die Botschaft, dass Angst und Wut und Trauer und all die anderen ungemütlichen Emotionsgenossen etwas Schlechtes oder Falsches sind. Dass wir sie so schnell loswerden müssen, wie sie gekommen sind, und dass es der Fehler unserer Kinder ist, wenn sie es einmal nicht schaffen, ihre Trauer in den Wind zu schlagen. Eine viel stärkere Botschaft, die wir unseren Kindern mitgeben können, die der Natur menschlicher Gefühle und deren Sinnhaftigkeit in unserem Leben entspricht: Alle Gefühle gehören dazu. Und keine Deiner Emotionen kann zu groß für mich sein, sie überwältigen mich nicht. Ich begleite Dich durch jeden Gefühlssturm. Damit strahlen wir eine Sicherheit im Umgang mit großen Gefühlen aus, die die Kinder spüren und annehmen. Wir sind damit der emotionale Hafen, in den die Kinder einkehren können.
2. Der eigenen Gefühlsgeschichte nachforschen
Im zweiten Schritt geht es darum, als Eltern unser eigenes Verhältnis zu Gefühlen anzuschauen. Die Herausforderungen unserer Kinder können unsere eigenen widerspiegeln. Um nicht Muster zu wiederholen, die wir selbst eigentlich nicht für gut befinden, hilft es in die eigene Gefühlsgeschichte einzutauchen und eine Art Anamnese an der eigenen Kindheit vorzunehmen.
Ein guter Startpunkt ist zu schauen, mit welchen Gefühlen meines Kindes ich besonders große Probleme habe. Wenn mein Kind wütend ist, fühl ich mich dann auffällig aktiviert? Wenn es Angst hat, piekst mich das? Oder wenn es sich schämt und zu schüchtern ist, hab ich damit ein Problem? Dann ergibt es Sinn, in das eigene emotionale Erleben zu gehen und zu gucken: Was hat das mit mir zu tun? Wenn wir uns die eigene Historie anschauen: Wie war das denn bei mir, als ich aufwuchs? Welche Emotionen durfte ich zuhause frei zeigen und leben? Und was wurde gemaßregelt? Was habe ich bei meinen Eltern beobachtet und an ihrem Modell gelernt? Manchmal wurde explizit und manchmal implizit kommuniziert, welche Gefühle toleriert werden und welche keinen Platz hatten. Die Vergangenheit schmiedet die Brille, mit der wir heute auf die Welt und auf unsere Kinder schauen.
In vielerlei Hinsicht ist unser emotionales Erleben verbunden mit den Handlungen und Worten unserer Kinder. Wenn das Verhalten unserer Kinder starke Gefühle in uns hochkommen lässt, sollten wir immer bedenken: Kinder sind niemals für die Gefühle ihrer Eltern verantwortlich. Es ist unsere eigene Aufgabe, einen guten Umgang mit unserem Innenleben zu finden. Wichtig ist deswegen, dass sie nicht fühlen, dass sie für die Gefühle und Gedanken der Eltern verantwortlich sind. Sätze wie: “Du machst mich so traurig, wenn Du das machst.” setzen eine kleine Saat in die Kinderköpfe, dass sie sich mit ihren großen Gefühle zurücknehmen müssen. Und es führt dazu, dass Kinder Schuldgefühle verspüren, wenn es Mama oder Papa mal nicht gut geht, auch wenn es überhaupt nichts mit ihnen zu tun hat. Parentifizierung nennen wir dieses Phänomen in der Psychologie, wenn Kinder sich zu verantwortlich für ihre Eltern fühlen.
Ein offenes Auge sollten wir darum auch auf Momente halten, in denen wir unseren Emotionshaushalt über die Kinder regulieren. Was ich damit meine? Manche kennen die Szenen am Feldrand eines Fußballspiels der Kinder. Manche Eltern betreiben das Jubeln und Anfeuern mit besonderer Rigorosität. Da kommt bei mir der Verdacht auf, dass der Erfolg der Kinder im Fußballspiel für diese ehrgeizigen Eltern etwas mehr bedeutet, als nur das Kind zu unterstützen und mit ihm seinen Spaß zu teilen. Manche kompensieren möglicherweise unbewusst eigene unangenehme Gefühle durch den Erfolg der Kinder – vielleicht geht es um Ängste über das Scheitern der Kinder und was das über meine Erziehungsrolle erzählen könnte. Wer in solchen Momenten den Spaß und die Leichtigkeit vergisst, die so eine Freizeitaktivität für ein Kind bedeuten sollte, kann in sich gehen, den Gründen nachspüren und versuchen, die Spannungen zuerst bei sich selbst aufzulösen. Unser Wohlbefinden sollte nicht von den Leistungen unserer Kinder abhängen.
Bei all dem dürfen wir aber nicht vergessen, uns mit Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl zu begegnen. So wie wir sie einer guten Freundin oder einem guten Freund entgegenbringen. Es ist enorm herausfordernd, den Weg durchs Leben mit seinem Kind zu gehen. Und manchmal sind diese Themen, wie der Umgang mit aufschäumenden Emotionen, auch für uns schlichtweg neu. Die Reise zur Gefühlsbereitschaft ist ein Prozess, bedarf der Praxis und unzähligen Versuchen, bei denen wir auch viele Male anders reagieren werden, als wir uns das gewünscht haben. Das ist okay. Geduldig und liebevoll – so sollten wir nicht nur mit unseren Kindern, sondern auch mit uns selbst umgehen.
3. Emotionsregulation
Emotionsregulation bedeutet, Einfluss auf seine Gefühle zu nehmen. Aspekte dieses Prozesses sind zum Beispiel die Selbstberuhigung oder das Lenken der eigenen Aufmerksamkeit. Hierbei brauchen Kinder unsere Hilfe, denn ihr Gehirn ist noch in der Entwicklungsphase. Genauer geht es um den präfrontalen Cortex, der Impulse und Reize reguliert. Wenn der noch nicht im Einklang mit der Amygdala, dem Emotionszentrum, arbeitet, ist das wie Gefühle ohne Filter. Sie überfluten und nehmen alles ein. Besonders im Alter von fünf bis sieben Jahren sind emotionale Ausbrüche und große Stimmungsschwankungen typisch.
Wie können wir in hitzigen Momenten Orientierung geben, wenn die Emotionen im Kind heiß aufkochen? Manchmal kann es gut sein, die Kinder für eine Zeit in ihren Emotionen sein zu lassen. Das kann wie wildes Toben aussehen oder Vor-sich-hin-schmollen. Dabei sollten wir aber signalisieren: Ich bin hier, Du und ich stehen weiterhin in Verbindung und wenn Du bereit bist, können wir wieder miteinander sprechen.
Manchen Kindern hilft es, ihren Gefühlen konkrete Bilder zu geben. Mir gefällt der Vorschlag der Pädagogin Eliane Retz für Kinder, die oft heftige Wutanfälle erleben: Sich die Wut als Tier vorzustellen, das man wegbrüllen kann.
Im Nachhinein, wenn wieder mehr Windstille eingekehrt ist, können wir die Situation sortieren, den Gefühlen Namen geben und darüber reden, was der Ursprung für das Gefühl war. Am besten nehmen wir uns nach einem intensiven Gefühlssturm in die Arme. Das macht fühlbar: Am Ende ist alles gut. Denn bei der Umarmung wird Oxytocin bei den Kindern wie den Eltern ausgeschüttet, ihre Bindung wird gestärkt und ihre Nervensysteme beruhigen sich.
4. Emotionale Geschichte erzählen
Emotionale Edukation – so lautet der psychologische Begriff für den Prozess, Worte für unsere Gefühle zu finden und zu lernen, sich einen Reim aus den inneren Gefühlsstürmen zu machen. Wir werden sozusagen zu Expertinnen und Experten des eigenen Emotionshaushalt. Es gibt viele Wege, uns auf diese Reise zu begeben. Eine ganz einfache Übung kann es sein, das Kind danach zu fragen, wie sich ein Gefühl genau anfühlt. Wo im Körper befindet es sich, welche Farben trägt es, wie sieht es genau aus? Die Wut ist vielleicht eine dunkle Wolke im Bauch, die doll rumort und um sich greift. Kinder finden meistens ihre eigenen Bilder und Worte. Dabei können wir ihnen durch Nachfragen auf die Sprünge helfen. Kann es sein, dass sich in Deine Wut noch etwas anderes beigemischt hat? Fühlst du Dich auch ein bisschen eifersüchtig?
Es gibt außerdem tolle Spiele mit Emotionskärtchen, mit denen das Kind Karten auslegen und so spielerisch überlegen kann, wie es sich in einer bestimmten Situation gefühlt hat. So entdeckt man mit dem Kind spielerisch die ganze Bandbreite der Gefühle und es lernt, immer besser das zu benennen, was in ihm vorgeht. Diese innere Sprache zu lernen ist ein ganz wichtiger Schritt hin zu einem selbstbewussten Umgang mit den eigenen Emotionen.
Es kann zudem sehr erkenntnisreich und heilsam sein, Situationen in der Vergangenheit noch einmal gemeinsam zu besuchen und zu überlegen, was dabei genau passiert ist. Was hat das Kind gefühlt und war Anlass für seine Reaktion? Vielleicht gibt es auch Grund, über unser eigenes Verhalten in dieser Situation nachzudenken. Wurden wir vielleicht von unserer eigenen Wut überrannt und haben das falsche Wort gesagt? Dann dürfen und sollten wir uns bei unserem Kind entschuldigen. Das Tolle und Spannende dabei ist, dass wir in solchen Reflektionsmomenten eine neue Geschichte über etwas Vergangenes erzählen können. Wir können die Erinnerungen unserer Kinder verändern und mit neuen Emotionen belegen. Erinnerungen sind nämlich eine aktive und sich ständig verändernde Masse. Wenn wir einen früheren Moment, den unser Kind mit großer Scham abgespeichert hat, mit einem neuen Gedanken oder einem anderen Gefühl verbinden können, kann das eine wertvolle Sache sein. Darum keine Scheu davor, gemeinsam in die Vergangenheit zu reisen, selbst wenn wir Sorge haben, dass wir dort eigene Fehler oder unangenehme Momente vorfinden werden.
5. Gefühle sind für alle da
Gesellschaftliche Erwartungen über das Verhalten von Mädchen und Jungs und alles darüber hinaus sind leider immer noch präsent. Das beeinflusst selbst diejenigen Familien, die mit großer Überzeugung dafür sorgen, dass ihre Mädchen stark und ihre Jungs einfühlsam werden. Geschlechterspezifische Sozialisierung liegt immer noch in der Luft, die wir atmen. Das betrifft genauso auch den Umgang mit Gefühlen, die bei Kindern je nach Geschlecht oft unterschiedlich gefeiert oder sanktioniert werden.
Was ich bei erwachsenen Männern und Frauen wahrnehme, fängt schon in der Kindheit an. Beide hadern mit unterschiedlichen Gefühlen. Bei Männern sind es oft die Emotionen, die gemeinhin als „weich” wahrgenommen werden: Trauer, Scham, Angst oder Einsamkeit. In Fußballemotionen haben sie dagegen ein Diplom: Jubelnde Freude und ausdrucksvolle Wut meistern sie mit Exzellenz. Bei Frauen, die oft stärker mit ihrer Trauer und Scham in Verbindung stehen, ist es dagegen die Wut, für die sie oft keinen Ausdruck finden. Denn Mädchen werden öfter zum prosozialen Verhalten angehalten, sie sollen die Bedürfnisse und Wünsche der anderen im Blick behalten. Wenn sie einmal ihre eigenen Wünsche durchsetzen oder gegen den Willen eines anderen drücken, werden sie schnell mit dem Vorwurf zurückgewiesen, „zickig” oder „schwierig” zu sein.
Darum plädiere ich dafür, diese Tendenzen zu reflektieren und nachzuspüren, ob auch wir manchmal unbewusst mit unterschiedlichen Parametern auf die Wut unserer Töchter oder die Traurigkeit unserer Söhne reagieren. Mit etwas Achtsamkeit können wir so einfühlsame Menschen großziehen, die mit der gesamten Bandbreite ihrer Emotionen in Verbindung stehen. Mit anderen Worten: Sie werden gefühlsbereit.
Meine ganz persönlichen Erfahrungen mit großen Gefühlen und den psychologischen Methoden, um ihnen zu begegnen, habe ich in meinem Buch „Fühl dich ganz” beschrieben.