Liebes Ich, liebe Lisa von 1993,
normalerweise würde ich diesen Brief, wie man es eben so macht, mit der Frage nach deinem Befinden beginnen. Doch das muss ich nicht, denn du bist ja Ich. Nur eben in der Vergangenheit.
Puh, ganz schön kompliziert, diese kleine mentale Zeitreise.
Wie dem auch sei: Ich weiß, es geht dir gut, glücklicherweise. Du bist in der Grundschule, seit diesem Sommer, eine so spannende Zeit.Du hast dich sehr auf diesen Tag gefreut und fühlst dich ganz groß, ein bisschen erwachsen. Du bist jetzt ein Schulkind. Auf den Fotos vom Tag deiner Einschulung schaust du glücklich, aber auch etwas verunsichert in die Fotokamera. Aufgeregt stehst du gemeinsam mit deinen zukünftigen Klassenkamerad*innen auf der Bühne in der Grundschulaula, alle haltet ihr eure bunten Schultüten im Arm. Du schaust nach links und nach rechts, musterst schüchtern die anderen Kinder – und du vergleichst dich. Wie sehen die anderen Schultüten aus? Das Mädchen neben dir hat eine tolle Hose an, die hättest du auch gern. Etwas weiter steht ein anderes Mädchen mit braunen langen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind. Du hättest auch gern so lange, seidige Haare, deine reichen nur bis knapp zum Kinn und sind dick und etwas widerspenstig.Du bis nun knapp sieben Jahre alt und beginnst mehr und mehr, dich bewusst mit anderen Kindern in deinem Alter zu vergleichen.
Piratenbande oder Puppengruppe?
Unbewusst nimmst du deine Umgebung schon lange wahr und lässt dich, wie es für bereits kleine Kinder nicht untypisch ist, sehr beeinflussen von dem, was du siehst. Das hat bereits im Kindergarten angefangen. Du trägst du am liebsten jeden Tag eine pink-blaue Leggings mit passendem Pulli mit Disneys „Die Schöne und das Biest“-Aufdruck. Du hast dir beides beim Einkaufen mit deiner Mutter ausgesucht, weil die anderen Mädchen im Kindergarten die gleichen Prints tragen. Sozusagen die „Paw Patrol“ der Neunziger. Gleichzeitig möchtest auch sein wie „die Jungs“. Du springst in Pfützen und raufst dich. Bei der Piratenbande der Jungs darfst du trotzdem nicht mitmachen. Schließlich sind Piraten erstens keine Mädchen und tragen zweitens keine pink-blauen Leggings und Pullover. Du bist enttäuscht und traurig, hinterfragst diese Regeln jedoch nicht. Ist doch klar, du hast ja auch noch nie eine Mädchen-Piratin mit pink-blauen Klamotten gesehen. Nicht in Büchern, nicht in Filmen. Es wird also seine Richtigkeit haben.
Fast forward ins Jahr 1994: Du sitzt auf dem Boden deines Kinderzimmers, spielst mit langhaarigen Barbie-Puppen und kleidest sie in kleine pinke Plastikpumps und rosa Tüllkleidchen aus Polyester. Doch deine Träume sind größer als Barbie: Du wünschst dir nichts sehnlicher als eine Baby Born Puppe. Weil Julia und Anna sie auch haben. Eigentlich auch nur deshalb. Die Baby Born ist keine normale Puppe. Sie kann Milch trinken und Pipi machen. Man muss ihre Windeln wechseln und kann ihr kleine Bodys anziehen – wie bei einem echtem Baby. Oft blättern du und deine Freundinnen außerdem durch die Kataloge voller Baby-Zubehör, die immer im Kinderladen ausliegen. Ihr macht Kreuze bei den Produkten, die ihr für euer echtes Kind kaufen würdet. Ein Kreuzchen am Chicco-Kinderwagen. Ein Kreuzchen am niedlichen Babyschlafsack mit rosa Blümchen. Ein Kreuzchen an der Babywippe mit dem niedlichen Stoff-Spielbogen. „Man kann schließlich nicht früh genug anfangen, sich zu informieren“, sagt Anna mit hochzogenen Augenbrauen und erhobenem Zeigefinger selbstsicher in eure Mädchen-Runde. Und ihr nickt zustimmend.
Weg von der Kernfamilie als Default-Mode
Heute, als Mutter von zwei Kindern, lache ich sehr bei diesen Erinnerungen. Ihr, beziehungsweise wir, waren so überzeugt davon, dass wir mal Mütter sein, uns kümmern werden. Wir haben es schließlich nie anders vorgelebt bekommen in unserer Vorstadt-Idylle. Mädchen werden Frauen und Frauen werden Mütter. Logisch. Mütter kümmern sich um die Kinder und Väter gehen morgens mit einem großen Lederkoffer zur Arbeit. Das war die Werkseinstellung, der Default-Mode, den wir, seit wir uns erinnern konnten, kannten. Natürlich innerhalb der heteronormativen Kernfamilie, bestehend aus Mutter, Vater, ein bis zwei Kindern und wahlweise einem Hund oder einer Katze. Wie hättest du wohl reagiert, wenn ich dir erzählt hätte, dass nicht alle Mamas immer zuhause bleiben, während die Papas Geld verdienen? Wenn ich dir von Equal Care, Mental Load, Altersarmut von Frauen oder Regenbogenfamilien erzählt hätte? Von Gender-Bias oder Gleichberechtigung?
Damals hätte man vielleicht gesagt, dass das etwas großes Besteck ist für ein so junges Kind. Aber ist das wirklich so? Was wäre gewesen, hätten deine Eltern sich schon mehr mit diesen Themen auseinander gesetzt, dir mehr Lebensrealitäten vorgestellt? Wenn Kinderbücher, Serien und Filme sich mehr mit den Konzepten außerhalb der klassischen Familienkonstellation befasst und sie dargestellt hätten? Hätten deine Eltern, deine popkulturelle und gesellschaftliche Sozialisierung in diesem Fall dafür gesorgt, dass du, statt durch Kataloge mit Kinderartikeln zu blättern, deine eigene Piratenbande gegründet hättest? Hätten deine Eltern sogar deine Ideen für die Zukunft und deren Ursprünge mehr hinterfragt? Sie kannten es ja auch nicht anders. Diese Fragen sollen keine Vorwürfe sein, sondern ein Gedankenspiel. Ein Was-wäre-wenn.
Equal Parenting vs. Familienpolitik von vorgestern
Ich kann absolut nicht darüber orakeln, ob dein Leben eklatant anders verlaufen wäre. Du bist mit Mitte Dreißig das erste mal Mutter geworden, weil du noch ein wenig der Mittelpunkt deines Lebens sein und dich verwirklichen wolltest. Du bist nicht verheiratet und dein Partner und du leben Equal Parenting. Aber du bist in die sogenannte Teilzeitfalle getappt. Du bist die, die in der Beziehung die größeren finanziellen Einbußen hat. Da kann man als Paar noch so modern leben, am Ende sind es die gesellschaftlichen Normen und Regeln, die einen doch wieder in die Knie zwingen.
Du musst jeden Tag noch deine internalisierten Vorurteile identifizieren und abschütteln, wenn es um Stereotype, Gendernormen, Elternschaft geht. Dein Umgang mit diesen Themen ist oft noch krampfig – etwa, wenn es um die Farbwahl der Kleidung deiner Kinder geht oder du stundenlang darüber nachdenkst, dass du deine Tochter als „wild“ bezeichnet hast. Dann hinterfragst du deine wirkliche Intention oder denkst den Rosaton eines T-Shirts in Grund und Boden. Ich wünsche mir für meine Töchter, dass sie sich freier machen können von Klischees und Erwartungshaltungen an ihr Geschlecht, als es dir damals möglich war. Ich wünsche mir wirkliche Gleichberechtigung und dass wir uns als Gesellschaft und Individuen loslösen von Vorstellungen, die an ein Geschlecht gekoppelt sind und pseudowissenschaftlichem Humbug, wie dass Jungs eben wilder seien und Mädchen ein Kümmer-Gen haben. Für meine Töchter – und alle anderen Kinder – wünsche ich mir eine Zukunft als fluide Piraten-Barbies. Ein Leben in aufgebrochenen Rollenklischees und ohne Genderstereotypien.
Liebe Lisa von 1993 plusminus. Ich glaube, wir haben noch einigermaßen die Kurve bekommen, aber ich bin mir sicher, du wärest eine selbstbewusstere und größere Frau geworden, wäre einiges schon damals anders gelaufen. Du wärest milder mit dir gewesen, früher schon ein besserer Ally für andere marginalisierte Gruppen. Dein Feminismus wäre schon lange intersektional. Deine internalisierte Misogynie hätte es eventuell nie gegeben, wer weiß.
Klar, du bist heute stolz darauf, was du schon gelernt hast, wie du dich entwickelt hast. Aber du stehst eben auch für eine ganze Generation, die diese Chancen nicht von Anfang an hatte, die sich große Steine in den Weg gelegt hat und noch immer legt. Wir müssen noch viel lernen und uns viel erkämpfen. Denn bei nicht wenigen hat es mit einer Piratenbande und Kinderkatalogen seinen Anfang genommen.
Liebe Lisa, Ich drücke dich.